Warum sollte man die eigenen Texte lektorieren, ein Selbstlektorat durchführen? Geht das überhaupt? Die Antwort ist: Ja. Allerdings gibt es dabei einige Dinge zu beachten. Was genau, welche Fallstricke lauern, stelle ich in den folgenden Abschnitten dar.
Schreiben und anschließendes Selbstlektorat sollten zwei getrennte Prozesse sein: Zuerst der kreative, fließende Prozess, bei dem alles aufs Papier darf, was einem gerade durch den Kopf geht. Hauptsache, die leere Seite wird voll.
Erfahrungsgemäß ist es viel schwerer, dieses weiße Blatt zu füllen, als anschließend mit einer anderen Sicht Korrekturen vorzunehmen. Ich las Artikel über Autoren, die sich das beispielsweise dadurch bewusst machen, dass sie sich während des Prozesses extra eine andere Kappe aufsetzen, z.B. mit der Beschriftung „Lektor“. Sie sind nun nicht mehr Autor, sondern jemand anderes. Damit wollen diese Autoren gegenüber sich selbst klarstellen, dass sie den eigenen Text mit fremden Augen betrachten wollen. Viele Wege führen nach Rom, es muss nicht unbedingt eine extra Mütze sein, die Sie sich aufsetzen. Aber folgende Dinge sind wichtig:
Haben Sie während des Schreibens des ersten Entwurfs Notizen über Dinge gemacht, die Sie überprüfen mussten oder über Recherchen, die Sie durchführen mussten? Sehr gut! Halten Sie diese Notizen bereit. Sie vermeiden typische Fehler, wie z.B. dass Ihre Figur auf Seite 5 blond ist, aber auf der Seite 12, die Sie zwei Wochen später geschrieben haben, plötzlich braune Haare hat. Mit einem Selbstlektorat und Notizen über das Aussehen Ihrer Romanfigur können Sie das korrigieren. Fehler in der Haarfarbe können vorkommen, besonders wenn Sie gerade eine tolle Handlungsidee niederschreiben und das Aussehen Ihrer Romanfigur aus dem Bewusstsein verlieren.
Gehen Sie die folgenden Abschnitte der Reihe nach durch. Sie arbeiten sich vom großen Ganzen hinunter zu den Details. Es hat keinen Sinn, Details in Szenen zu korrigieren, die aus dem Roman verschwinden könnten.
Sind Sie bereit? Los geht’s.
Handlung und Gesamtstruktur
1. Legen Sie den Roman für mindestens eine Woche beiseite. Vorzugsweise zwei bis vier. Sie brauchen Zeit, um einen Schritt zurückzutreten und eine objektive Perspektive zu bekommen.
2. Lesen Sie den gesamten Roman durch und machen Sie sich Notizen (noch keine Änderungen), wo die Handlung sich zu verlieren scheint oder auf eine nutzlose Randstory abschweift. Überall dort, wo die Story langsamer zu werden scheint, wenn sie es nicht sollte, oder schneller, wenn sie es nicht sollte, machen Sie Notizen.
3. Wenn Sie es noch nicht getan haben, erstellen Sie die Zeitleiste der Geschichte und überprüfen Sie, ob Sie ihr gefolgt sind. Machen Sie sich Notizen an Stellen, an denen die Story aus der Reihe zu tanzen scheint.
Hier finden Sie heraus, welche Szenen verschoben werden müssen, welche Lücken in der Haupthandlung und den Nebenhandlungen bestehen und gefüllt werden müssen. Überprüfen Sie auch alle Notizen, die Sie beim Schreiben des ersten Entwurfs gemacht haben. Verwenden Sie dann all diese Notizen:
4. Haben Sie Szenen in der falschen Reihenfolge? Vergewissern Sie sich, dass alles in einer logischen Reihenfolge ist. Vergewissern Sie sich, dass Sie keine Rückblenden verwendet haben, es sei denn, sie waren absolut notwendig. Die Hintergrundgeschichte sollte möglichst in kleinen Schritten in die Haupthandlung eingeflochten werden, nicht in Form von Rückblenden.
5. Haben Sie Handlungslücken? Fügen Sie alle Szenen hinzu, die zur Vervollständigung der Haupthandlung oder der von Ihnen geschaffenen Nebenhandlungen erforderlich sind. Fügen Sie keine Floskeln hinzu!
6. Apropos Floskeln. Entfernen Sie alle Szenen, welche die Handlung nicht vorantreiben. Seien Sie gnadenlos. Hierzu gibt es das Vorbild des Kartenhauses. Wenn Sie aus einem Kartenhaus eine Karte entfernen können, ohne das alles zusammenbricht, dann ist die Karte überflüssig. Genauso ist es mit Szenen. Können Sie eine streichen, ohne dass es dem Leser auffällt? Dann tun Sie genau das, ohne Gnade! Ihre Leser werden es danken.
7. Anschließende Fragen zu Szenen: Unterstützen alle Nebenhandlungen die Haupthandlung? Haben Sie welche eingefügt, nur weil sie Sie faszinieren, aber die Nebenhandlung trägt nicht zum Fluss des Romans bei? Falls ja, überarbeiten Sie die Nebenhandlungen oder streichen Sie sie ganz. Streichungen sind Ihr bester Freund, auch wenn es vielleicht hart ist. „Kill your Darlings“ ist die Devise des Selbstlektorats.
Legen Sie den Roman danach für eine Woche beiseite. Ja, genau. Schon wieder eine Pause. Diese ersten Bearbeitungsschritte sind hart und zeitaufwändig. Sie brauchen eine weitere Pause für Ihr Selbstlektorat.
1. Lesen Sie das Ganze noch einmal durch, um zu sehen, ob die Handlung jetzt von Anfang bis Ende reibungslos verläuft und ob sie der Zeitlinie korrekt folgt. Vergewissern Sie sich, dass auch alle Nebenhandlungen gut fließen und die Haupthandlung nirgends stören.
2. Sehen Sie sich Ihren Romanbeginn genau an. Ziehen Sie die Leser direkt in die Geschichte hinein? Haben Sie den Protagonisten und den Konflikt auf den ersten Seiten eingeführt? Geben Sie die erste Seite jemandem zum Lesen. Nach Möglichkeit jemand, der Ihnen eine ehrliche Meinung gibt und nicht aufgrund persönlicher Beziehungen schlechte Nachrichten verschweigt. Geben Sie der Person nicht mehr als eine Seite. Fragen Sie die Person anschließend, ob sie mehr lesen möchte. Wenn die Antwort nein lautet, schreiben Sie die Szene um. Lassen Sie die neue Version dann noch einmal lesen. Wiederholen Sie diesen Vorgang, bis Ihr Leser sagt: „Wie geht es weiter? Kann ich es lesen?“
3. Lesen Sie das Ende eines jeden Kapitels. Haben Sie für jedes Kapitel einen Mini-Haken oder Cliffhanger geschaffen? Zwingen Sie Ihre Leser, weiterzulesen, um zu erfahren, wie es weitergeht?
Wenn die Antwort nein lautet, versuchen Sie, den Roman für die Kapitel, die nicht mit genügend Spannung enden, anders zu unterbrechen. Fügen Sie im Prozess Selbstlektorat keine neuen Szenen hinzu, wenn Sie es nicht unbedingt müssen. Ordnen Sie sie einfach neu an, wenn Sie das logisch können. Sie wollen, dass Ihre Leser das Buch nur schwer aus der Hand legen können.
4. Lesen Sie als nächstes Ihr Ende. Ist der Höhepunkt hoch genug? Haben Sie die Auflösung übereilt, ist sie wenig überzeugend? Arbeiten Sie damit genauso wie mit Ihrem Romanbeginn, bis es sich richtig anfühlt. Wenn Sie jemanden haben, der den ganzen Roman lesen kann, um Ihnen eine Meinung von außen zu geben, können Sie dies jetzt tun oder auf diesen Schritt zurückkommen, wenn Sie mehr von Ihrem Lektorat erledigt haben.
Damit endet Teil 1. Bleiben Sie dran für Teil 2 des Selbstlektorats.
Schreibe einen Kommentar