Einfach ausgedrückt ist ein Charakterbogen die Veränderung, die Ihr Charakter im Laufe Ihrer Geschichte durchläuft. Es beschreibt den Weg von der Person, die er/sie zu Beginn Ihrer Erzählung war und der Person, die sie/er durch die Handlung am Ende des Romans wurde. Es handelt sich um eine innere, charakterliche Veränderung.
Ein trauriger Waisenjunge, der unter der Treppe lebt, verwandelt sich in einen Zauberer, der den dunklen Lord besiegt. Ein mutiger junger Jedi mit einer Vorliebe für ältere Frauen verwandelt sich in den dunklen Lord, weil … ? Das sind zwei Veränderungen mit den Beispielen Harry Potter und Anakin Skywalker. Ein Bogen zeichnet die Entwicklung eines Charakters zu einer neuen Version von sich nach.
Für die Arbeit an einer Charakterentwicklung ist es wichtig, Schlüsselelemente zu erkennen, die einen Charakterbogen ausmachen.
1. Ein Wunsch: Was will Ihre Figur mehr als alles andere?
2. Ein Bedürfnis: Was braucht die Figur? Das kann die Erkenntnis einer bisher versteckten Wahrheit sein, eine moralische Veränderung oder einfach ein neu entwickeltes Vertrauen in die richtigen Menschen. Vielleicht hat Ihre Figur bisher auf die falschen Personen gehört und erkannte im Lauf der Handlung die Wahrheit.
3. Klare Trennung Bedürfnis und Wunsch: Was Ihre Figur braucht, sollte sich unterscheiden von dem, was sie sich wünscht. Typischerweise wünscht eine Figur sich zu Beginn der Handlung Dinge (z.B. Ruhm) und erkennt erst im Lauf der Handlung, dass sie sich auf dem Holzweg befindet und etwas anderes braucht (z.B. echte Freunde).
4. Ein Fehler: Was hält die Figur zurück? Was erkennt er/sie nicht über sich selbst oder über andere?
Was ist der Zweck eines Charakterbogens?
Ein Charakterbogen macht Charaktere sympathisch, interessant und verletzlich. Ein gut ausgestalteter Charakterbogen kann uns zu Tränen rühren, uns in Angst versetzen oder uns zum Jubeln bringen.
Warum braucht Ihr Charakter einen Bogen?
Kurz gesagt: Bögen machen Charaktere erst zu richtigen Personen. Wenn die Leser Ihre Charaktere nicht verstehen, sich nicht mit ihnen identifizieren können oder kein Interesse entwickeln, dann wird keine noch so große Menge an Action oder Romantik in der Handlung daran etwas ändern.
Welche verschiedenen Arten von Charakterbögen gibt es?
Es gibt vier Arten von Charakterbögen: moralisch aufsteigend, moralisch absteigend, transformativ und flach. Verschiedene Charaktere in Ihrer Geschichte sollten unterschiedliche Bögen haben. Es kann vom planerischen Standpunkt aus effektiv sein, Charaktere mit gegensätzlichen Bögen in die Handlung einzubringen.
Moralisch aufsteigender Charakterbogen
Ein moralisch aufsteigender Charakterbogen bringt eine Romanfigur dazu, ihre Fehler und Schwächen zu überwinden, um auf diese Weise zu einem besseren Menschen zu werden.
Wer liebt es nicht, wenn jemand seine Schwächen überwindet? Diese positive Veränderung ist etwas, das wir alle positiv finden, weil im Grunde jeder sein Schwächen überwinden möchte.
Beispiel für moralisch aufsteigende Charakterentwicklungen
Han Solo – Star Wars
Han interessiert sich nur für eines: Geld. Er erinnert die anderen Figuren ständig daran, dass er nur wegen des Geldes diverse Dinge mitmacht. Die anderen versuchen ihn davon zu überzeugen, dass er besser ist als das. Er ignoriert sie und rennt vor der letzten Schlacht davon. Als dann alle Hoffnung verloren ist, rettet Han die Situation, weil er seine Meinung geändert hat. Ein Klassiker.
Moralisch absteigender Charakterbogen
Der Abstieg in die Dunkelheit. Diese Bögen führen Charaktere auf einen schlechten Weg. Je mehr sie Begierden und Schwächen nachgeben, desto mehr verlieren sie Moral und Werte.
Ein negativer Charakterbogen kann Spaß beim Schreiben und Lesen machen. Wichtig ist jedoch, einen glaubwürdigen Grund dafür zu vermitteln, warum die Person negative Entscheidungen. Niemand ist böse, weil er schon immer böse sein wollte. Das wäre ansonsten ein Klischee, das beim Leser höchstens gähnende Langeweile hervorruft.
Beispiel für moralisch absteigende Charakterbögen
Walter White – Breaking Bad (Filmserie mit 62 Episoden in 5 Staffeln, erhielt als Auszeichnung 2 Golden Globes und 16 Emmys)
Vom trotteligen, an Krebs erkrankten Chemielehrer, zum skrupellosen Drogenbaron. Breaking Bad ist der Inbegriff eines glaubhaft dargestellten moralischen Abstiegs. Das Beste daran ist, dass Walters Handlungen gerechtfertigt erscheinen. Er tut es für seine Familie. Zumindest sollen die Zuschauer des Films das glauben.
Anakin Skywalker – Star Wars
Ihre Figuren benötigen einen glaubwürdigen Grund für ihr Handeln. Anakins erste Schritte auf die dunkle Seite wurde durch den Tod seiner Mutter ausgelöst. Das ist glaubwürdig und wurde im Film gut vermittelt.
Beispiele für transformative Charakterentwicklungen
Katniss Everdeen – Die Tribute von Panem
Katniss hat keine wirklich positive oder negative Entwicklung, aber sie durchläuft zweifellos eine transformative Entwicklung. Obwohl sie während der gesamten Serie im Grunde dieselbe Person bleibt, kämpft sie innerlich damit, ihr wahres Ich mit dem Bild, das andere von ihr haben, in Einklang zu bringen.
Am Anfang ist sie ein normales Mädchen, das sich ein normales Leben wünscht. Die Teilnahme an den Hungerspielen verwandelt Katniss. Sie will nicht Teil einer blutigen Unterhaltungsshow für die Oberschicht sein. Sie wird ungewollt zum Symbol der Rebellion.
Die Pevensie-Kinder – Die Chroniken von Narnia
Die Pevensies sind ganz normale Kinder, die durch einen Kleiderschrank in das fantastische Land Narnia gelangen. Bald erfahren sie, dass sie dazu bestimmt waren, an diesen neuen Ort zu kommen, und dass sie in Wirklichkeit königlicher Abstammung sind. Sie müssen sich rüsten und bereit sein, sich gegen die Übel zu verteidigen, die in diesem Land lauern.
Flacher Charakterbogen
Charaktere mit einem flachen Bogen bleiben dort, wo sie angefangen haben. Flache Bögen können für Nebenfiguren verwendet werden.
Beispiele für flache Charakterentwicklung
Sherlock Holmes – Sherlock Holmes
Der geniale Detektiv ist einfach ein Genie. Moderne Interpretationen geben Sherlock oft eine Entwicklung. Aber der klassische Sherlock existierte nur, um Rätsel zu lösen, und veränderte sich nur wenig bis nicht. Dadurch konnten die Leser jeden Sherlock-Roman zur Hand nehmen und lesen, ohne wichtige Informationen zu verpassen.
Leia Organa – Star Wars
Leia verändert sich nicht sonderlich. Ihre Ziele (Zerstörung des Imperiums) verändern sich nicht. Leia kümmert sich um die Menschen in ihrer Umgebung. Ferner verbringt sie viel Zeit damit, anderen Figuren zu helfen. Leia ist eine klassische Unterstützungsfigur, die lediglich dazu da ist, anderen rechtzeitig auf die Sprünge zu helfen. Solche Figuren benötigen keine Entwicklung.
Wie schreibt man Charakterbögen?
Im Grunde gibt es keine festen Regeln, aber Tipps:
1. Beginnen Sie mit Wünschen, Motivation und Hindernissen
Fragen Sie sich Folgendes:
• Was will meine Romanfigur?
• Warum will er/sie das?
• Was hindert ihn daran, das zu bekommen, was er/sie will?
• Ist das, was die Romanfigur will identisch mit dem, was sie braucht? (Beispiel: Drang nach Ruhm vs. Finden von echten Freunden)
2. Entwickeln Sie Konflikte
Interne Konflikte entstehen durch widersprüchliche persönliche Wünsche und Motivationen. Externe Konflikte entstehen durch verschiedene Charaktere, deren Wünsche und Motivationen oft gerade deshalb in Konflikt mit Ihrer Romanfigur geraten. Erschaffen Sie keinesfalls „Bösewichte“, die schon immer böse waren, immer böse sein werden und nur deshalb Ihrer tollen, superlieben, superschönen, von allen geachteten Romanfigur Steine in den Weg legen. Damit wären Sie wieder im Bereich der Klischees. Sie wissen ja schon: Klischees verursachen gähnende Langeweile.
3. Planen Sie die Veränderungen
Die Motivationen und Wünsche Ihrer Romanfigur ändern sich im Laufe der Ereignisse Ihrer Geschichte. Wie verändert sie sich in den folgenden typischen Phasen (analog zum Blake Snyder Beat Sheet) eines Romans?
• Anfang (die normale Welt, der Alltag der Figur)
• Catalyst, auslösendes Ereignis (Einstieg in die Handlung)
• ansteigende Probleme bis zum Mittelpunkt der Handlung
• Moment, in dem alles verloren scheint
• Dunkelste Stunde der Nacht (Verlust aller Hoffnung
• Entscheidung, Einstieg in das Finale,
• Kurzer Einblick in das neue Leben der Romanfigur
Beginnen Sie mit dem Ende. Wie sieht Ihre Figur am Ende der Handlung aus? Was muss passieren, damit die Figur sich genau in diese Richtung entwickelt? Dann brauchen Sie nur noch die Lücken bis dahin füllen.
Literatur zum Thema Charakterbogen
Es gibt – nach meiner persönlichen Meinung – ein wirklich sehr gutes Buch, das die vielfältigen Facetten des Charakterbogens besonders für Schreibanfänger gut erläutert.
K.M. Weiland „Creating Character Arcs” The Masterful Author’s Guide to Uniting Story Structure
Zwar gibt es inzwischen ein paar Bücher der Autorin in deutscher Übersetzung, aber dieses liegt nur im englischen Original vor. Die Autorin ist mit normalen Englisch-Kenntnissen gut lesbar, weshalb ich das Buch empfehlen kann.

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